Die arabische Nation auf deutschem Sonderweg

Wie die Entstehung der deutschen Nationalbewegung als antimaterialistische, romantische, die deutsche Geschichte mystisch verklärende Reaktion auf den in Europa seit der französischen Revolution beschleunigt sich entwickelnden Kapitalismus, als Reaktion auf die französische militärische Präsenz in den deutschen Fürstentümern beschrieben werden kann, so die Entstehung der panarabischen Nationalbewegungen nach dem 1. Weltkrieg als antimaterialistische, romantische, die arabische Geschichte mystisch verklärende Reaktion auf die koloniale Durchdringung ihrer Länder, als Reaktion auf die französische militärische Präsenz im Libanon, in Syrien, die britische in Palästina, im Irak, in Ägypten.
Die Zukunft einer modernen deutschen Nation, in der die Kleinstaaterei, die Zukunft einer modernen arabischen Nation, in der die koloniale Teilung überwunden sein würde, sollte über die Rückbesinnung auf mystisch verklärte vergangene Stärken gewonnen werden – hier die barbarisch-germanischen Urkräfte, dort die kriegerischen Tugenden des goldenen islamischen Zeitalters, hier das deutsche Gemüt, dort die arabische Seele. An der Moderne interessierte vor allem die weit fortgeschrittene Technik. Gab die deutsche Nationalbewegung, die ursprünglich positiv auf die französische Revolution sich bezogen hatte, Aufklärung, Humanität, bürgerliche Freiheit sukzessive auf zugunsten des Bündnisses mit den alten feudalen, den reaktionären Mächten, dem preußischen Militarismus („Blut und Eisen“), so suchten auch die panarabischen Nationalbewegungen das Bündnis mit dem Militär (die syrische, die irakische Baath Partei) oder gingen gleich selbst aus ihm hervor wie der ägyptische Nasserismus („Freie Offiziere“). Sie waren nicht am Vorbild bürgerlich-demokratischer Nationen orientiert, sondern an der völkischen Nation Deutschland. Dies soll im Verlauf des Vortrags anhand von grundlegenden Studien Bassam Tibis über die „Konzeption des völkischen, panarabischen Nationalismus und ihre ideengeschichtlichen Quellen“ gezeigt werden, Studien aus dessen Buch „Vom Gottesreich zum Nationalstaat. Islam und panarabischer Nationalismus.“ (Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1987)
Die intellektuellen Wegbereiter des panarabischen Nationalismus, der Hochschullehrer Sati’ Husri, im Anschluß an ihn der Theoretiker und Begründer der Baath Partei, Michel `Aflaq, waren nicht an der amerikanischen, der französischen Aufklärung orientiert, an Jefferson, Rousseau, Montesquieu, sondern an der deutschen Romantik, an Herder, Fichte, Ernst Moritz Arndt. „Jene deutschen Denker, die der Aufklärung verpflichtet waren, wie Lessing, Kant, Hegel u.a., werden von den germanophilen arabischen Nationalisten als Kosmopoliten abgetan. Ihr Augenmerk gilt vornehmlich dem deutschen Volksbegriff der Romantik, den sie auf die ‚arabische Nation‘ okulieren.“ (105)
Über „Husris Angriff auf die französische Nationsidee“ schrieb Tibi (Professor für internationale Beziehungen an der Universität Göttingen) ein ganzes Kapitel. Den antifranzösischen deutschen Nationalismus beschrieb Tibi (einst in Frankfurt Student bei Adorno, Horkheimer, Habermas und Iring Fetscher) treffend als „Konternationalismus“, der arabische Nationalismus der Kolonialzeit sei diesem „intellektuell verwandt“ gewesen. (104) Sati Husri, Michel `Aflaq seien die „Väter des germanophilen arabischen Nationalismus“ gewesen (123), die „das arabische politische Denken überhaupt bis zum Beginn der 1960er Jahre auf nachhaltige Weise prägten“. (104)
Husri wirkte in Syrien, im Irak, in Ägypten je in hoher Funktion als staatlicher Erziehungsbeamter, zeitweise als Minister. Seine Arbeiten, so Tibi, waren die „einflußreichsten Schriften in allen arabischen Ländern. Sie waren Pflichtlektüre an Schulen und Universitäten sowie für Mitglieder nationalistischer Parteien. Husri wurde zum ‚Philosophen des arabischen Nationalismus‘ erklärt; ein führender politischer Schriftsteller nannte Husri gar den ‚arabischen Fichte‘ … Im zersplitterten Deutschland vor 1871 sieht Husri eine historische Parallele zu dem zersplitterten arabischen Gebiet zwischen dem persischen Golf und dem atlantischen Ozean. Wonach die Araber sich – Husri zufolge – sehnen, ist ein ‚arabisches 1871’“. (110, 115) Dementsprechend sah die nasseristische, in den 1950er und ´60er Jahren unter den Palästinensern einflußreichste, in vielen Ländern des Nahen und Mittleren Ostens vertretene Bewegung der Arabischen Nationalisten (BAN) im Chef des ägyptischen Militärregimes, Gamal Abdel Nasser, einen „arabischen Bismarck“. (197)
„Der Logik solchen Vergleichs folgend“, schrieb der Referent in einer früheren Publikation, „darf angenommen werden“, daß die arabischen Nationalisten hofften, „ein preußisches Ägypten werde die Einheit Arabiens mit ‚Blut und Eisen‘ erzwingen.“ Wie der preußische Militarismus unter Führung Bismarcks die Einheit Deutschlands mittels eines Krieges gegen Frankreich erzwungen hatte, so wollten die arabischen Nationalisten unter Führung Nassers die Einheit Arabiens mittels eines Krieges gegen Israel erzwingen. (Selent 2003, 133)
Was in diesem Vortrag beschrieben werden soll, sind Parallelen und Ähnlichkeiten der deutschen und arabischen Nationenbildung. Es soll die in der Geschichtswissenschaft, in den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften entwickelte Theorie des deutschen Sonderwegs angewendet werden für die Untersuchung der arabischen Nationenbildung. Es geht um die Dialektik zu spät gekommener arabischer Gesellschaften, Traditionsgesellschaften, die an der Aufklärung nicht interessiert waren, die an der Moderne allein ihre überlegene Technik interessierte, die an der völkischen Nation Deutschland orientiert waren, in der Folge logisch auch am deutschen Faschismus. (Mallmann / Cüppers: „Halbmond und Hakenkreuz. Das ‚Dritte Reich’, die Araber und Palästina.“ Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Darmstadt 2006)
Daß die frühen panarabischen Strömungen am Nationalsozialismus orientiert waren, soll im Verlauf des Vortrags am Beispiel von Gruppierungen gezeigt werden, aus denen die syrische und die irakische Baath Partei hervorgegangen sind, am Beispiel u.a. von Zitaten früher Führer dieser Parteien sowie ihres Begründers und Theoretikers Michel `Aflaq, der nach Angaben von Prof. Tibi „während seines Aufenthaltes in Paris 1937 mit der Lektüre von Alfred Rosenbergs Buch ‚Der Mythos des zwanzigsten Jahrhunderts’“ beschäftigt war. (190)
„Texte von Vordenkern der faschistischen Bewegung oder des Nationalsozialismus“, so Christoph Schumann, Assistent an der Professur für Politik und Zeitgeschichte des Modernen Nahen Ostens (Universität Erlangen-Nürnberg), seien „in den vierziger Jahren im Milieu des Baath-Nationalismus durchaus en vogue“ gewesen. (In: Höpp / Wien / Wildangel, Hrsg., Berlin 2004, 162f)
„Die syrischen Parteifreunde“, so wieder Bassam Tibi, „fanden `Aflaq voller Begeisterung für Rosenberg und Hitler. Im nationalsozialistischen Deutschland sah `Aflaq ein Vorbild für die ihm vorschwebende Synthese aus Nationalismus und Sozialismus.“ (1987, 190) Dieser „Arabische Sozialismus“ war radikal antikommunistisch und antisemitisch ausgerichtet. Über Karl Marx äußerte `Aflaq, dieser habe den wissenschaftlichen Sozialismus „mit seiner haßerfüllten jüdischen Seele beträufelt“. (Tibi 1969, 28) „Nach dem Staatsstreich der germanophilen, mit dem Dritten Reich kollaborierenden arabischen Nationalisten unter Raschid `Ali Gailani 1941 im Irak gründete `Aflaq ein Komitee, das dem Gailani-Regime volle Unterstützung zusicherte“. (Tibi 1987, 190) Dieses Komitee, „eine Gesellschaft für Irakhilfe“, „war die Urzelle der späteren Baath-Partei“. (Lewis, Frf./M./Berlin, 1987, 178)
Der profaschistische Staatsstreich im Irak mündete im Juni 1941 in Bagdad in den „Farhud“, einen Pogrom, bei dem 179 Juden ermordet, 2118 verletzt wurden, 242 jüdische Kinder ihre Eltern verloren, 48.584 Juden ihres Eigentums beraubt, Synagogen und Thorarollen geschändet wurden. („Enzyklopädie des Holocaust“ Bd. II, 643) Was also hier in diesem Vortrag thematisiert werden soll, sind die arabischen Gesellschaften, wie sie auf deutschem Sonderweg sich bewegt und herausgebildet haben, weltabgewandte, antihumanistische, gegenaufgeklärte, antidemokratische Staaten, Macht- und Militärstaaten, in denen die Bedingungen gegeben waren, unter denen die Konsequenz des Antisemitismus, die Vernichtung, Realität zu werden drohte: Nach Angaben des deutschen Gesandten in Bagdad, Fritz Grobba, stellten die irakischen Putschisten gegenüber dem „Dritten Reich“ den Anspruch, „die Frage der jüdischen Elemente, die sich in Palästina und in den anderen arabischen Ländern befinden, so zu lösen, wie es den nationalen und völkischen Interessen der Araber entspricht, und wie die Judenfrage in Deutschland gelöst worden ist.“ (1967, 196f) Umsetzen konnten die irakischen Nazifaschisten ihre Pläne nicht. Britische Truppen, darunter eine Kommandoeinheit der zionistischen Untergrundorganisation Irgun Zvai Le’umi, machten dem prodeutschen Militärregime ein Ende.

Vortrag und Diskussion, 1. März 2012, 20:00 Uhr, Jugend- und Kulturzentrum Druckluft, Abendkursreihe „Kritische Theorie heute“ des Bildungswerks der Ruhrwerkstatt Oberhausen.
Ein Projekt gemeinsam mit Antifa 3D D-Day Duisburg

Der Referent, Karl Selent, machte eine Ausbildung zum Betriebsschlosser und studierte an der Universität Gesamthochschule Duisburg Sozialwissenschaften, dort bei dem marxschen Soziologen Prof. Dankwart Danckwerts sowie bei dem liberalen Sinologen Prof. Konrad Wegmann [Autor einer Publikation mit dem Titel „Zur Problematik marxistischer Ethik und sozialistischer Moral: China.“ (1978)] Selent ist Lehrbeauftragter an der Universität Duisburg Essen. Er gibt dort ein Seminar zum Thema „Islamische und andere Staaten auf deutschem Sonderweg“.

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